Meine künstlerische Praxis ist verwurzelt in einer Rückbesinnung auf eine vormoderne Kunsttradition, die literarisch, religiös und philosophisch geprägt war. Ich spüre eine große Verbundenheit mit dieser Zeit und erkenne darin eine Haltung, in der Aktivität und Materie zusammen gedacht wurden und die ich in unserer anthropozentrischen Gegenwart für unerlässlich halte.
Der Akt des Lesens bringt mich mit historischen Lebens- und Denkformen in Berührung. Während des Lesens und Interpretierens erkenne ich meine eigenen Intentionen und aktualisiere historische Stimmen. Oder, wie Walter Benjamin schreibt: „Die wahre Methode, die Dinge sich gegenwärtig zu machen, ist, sie in unserem Raum (nicht uns in ihrem) vorzustellen. […] Nicht wir versetzen uns in sie, sie treten in unser Leben.“ (Das Passagen-Werk, [Der Sammler])
Häufig sind Gedichte, Zitate oder Metaphern unmittelbare Impulsgeber für ein Bild; in den Bildtiteln sind diese textuellen Ausgangspunkte nachvollziehbar. Da ich mich während meines Studiums der Malerei und der Vergleichenden Literaturwissenschaft hauptsächlich mit Kunsttheorien des späten 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt habe, lese ich seitdem vor allem Texte, auf die sich – für mich unvergleichliche – Avantgardist*innen wie Marcel Duchamp, Hilma af Klint oder Piet Mondrian bezogen haben. Was haben diese Künstler*innen von den Symbolisten, Vitalisten, Theosophen und Animisten, die sie rezipierten, über Themen wie Präsenz, Bedeutung, Intensivierung und In-Erscheinung-Treten gelernt? Was ist hiervon heute noch relevant, und was davon kann ich auf meine Bilder anwenden? Mit diesen Fragen, die in erster Linie Dimensionen ästhetischer Erfahrung betreffen, beschäftigen sich Bilder wie „Über die Sicherheit von Knoten und Schnüren“, „Wald und Höhle“ und „Pounds Erscheinung“.
Inhaltlich betrachtet sind es vor allem Natur/Kultur-Beziehungen der vormodernen Zeit, die ich in meine künstlerische Arbeit aufnehme und in denen ich ein ökologisches Bewusstsein erkenne, das unserer gegenwärtigen, mechanischen Natur/Materie-Auffassung als Alternative dienen kann. Titel wie „Tabernakel“, „Sedes sapientiae“ oder „Laubhütte“ greifen historische Genres und Sujets auf, die die klassische Natur/Kultur-Dichotomie infrage stellen. Auch die Fenster, Fontänen, Türen und Treppen, die wiederholt in meinen Arbeiten auftauchen, können als (kulturelle) Formen verstanden werden, die zwischen Natur und Kultur, Innen und Außen, Nähe und Ferne, Anwesendem und Abwesendem vermitteln.
Die Bilder, die ich kreiere, werden – im Sinne von Jean François Billeters „Ein Paradigma“ – durch meine Aktivitäten erschaffen und sind in ihnen enthalten. Das Schichten von flüssiger Materie auf einen Träger aus gespanntem textilen Gewebe, die Aktivität des Übermalens, das Changieren zwischen Druck und Gegendruck, Norm und Abweichung, sind Schaffensphasen, die Gemeinsamkeiten mit geologischen und biologischen Prozessen des Wachsens und Zerstörens aufweisen. In Arbeiten wie „Mesenchym“ oder „Digging the (W)Hole of Memory“ sind solche Übereinstimmungen offensichtlich; in formal komplexeren Arbeiten wie „Wir vom Ufer des Euphrats“ oder „Wenn wir wahr sind, dann sind wir es in der Nacht“ durchzieht die Idee der Fragilität des Lebendigen die Bilder auf mehreren Ebenen. Generell gilt auch hier, dass sie den Betrachter*innen Zugänge zu einer verschwundenen oder imaginierten Lebendigkeit eröffnen sollen: Malerei ist Öffnung.
Marjorie Jongbloed
Köln, im Dezember 2021